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Die erste Besucherin steht bereits in der Tür

Autorenbild: Barbara ImoberstegBarbara Imobersteg
Um 14 Uhr ist der grosse Zuschneide-Tisch noch mit einem Segel bedeckt. «Die alten Segel sind ein wunderbares Material,» sagt Ruth.


Bevor es aber zu Taschen und Etuis verarbeitet werden kann, muss es auseinandergeschnitten werden. Das Recycling beginnt mit dem Auseinandernehmen, aussortieren und der praktischen Unterbringung, bis aus den einzelnen Teilen wieder neue Produkte entwickelt und hergestellt werden. Die Segel lassen sich nicht zusammenfalten wie Servietten. Sie sind widerspenstig und die coolen Extras, die später einen Shopper als Unikat auszeichnen, wie etwa Metallösen, kommen in die Quere. «Wir machen diese Arbeit trotzdem selbst, wir möchten sie nicht auslagern», hält Ruth fest.


Die erste Besucherin steht bereits in der Tür. Wer schon vor Beginn des Nähkurses kommt, hilft mit bei allgemeinen Aufgaben.

Souad bekommt einen Turm aus Yogakissen, um sie zu wiegen. Jedes Kissen hat ein anderes Gewicht und wird im Shop entsprechend ausgeschrieben. Sie schreibt die Zahlen gewissenhaft auf und vergewissert sich zwischendurch, dass sie richtig abgelesen hat.


Plötzlich ist der Laden voll. Besucherinnen und freiwillige Helferinnen begrüssen sich, wechseln ein paar Worte und möchten anfangen. Alle gleichzeitig. Wer hat welches Projekt in Arbeit? Wer braucht welche Hilfe? Wo ist das Namensschild? Das Schnittmuster? Die Spitzenbordüre? Amira ist eine geübte Schneiderin. Sie erzählt von den Schmerzen in den Händen, die sich eben etwas gebessert haben.


Die umstehenden Frauen kennen das Problem aus eigener Erfahrung.

Alle zeigen sich gegenseitig ihre entzündeten Gelenke und lachen gemeinsam darüber hinweg. Amira setzt sich vergnügt an die Maschine. Mogai näht bereits drauflos. Ihre Tochter Samira hilft ihr zwischendurch wortlos beim Einfädeln. Die Mutter weiss dafür, wo der rote Faden zu finden ist. Die beiden sind ein eingespieltes Team.


Huda sucht mit Monika einen neuen Stoff aus.


Das Regal mit den schön sortierten Stoffballen füllt die ganze Wand aus. Eine Augenweide.

Wer hat die vielen Stoffspenden und Restposten aller Art gesichtet, ausgewählt und eingeräumt? Huda sucht etwas Passendes für ein Kinderkleidchen. Wie alt ist das Mädchen? «Vier Jahre alt», antwortet Huda. «Dann Grösse 86», meint Monika, «meine Enkeltochter ist auch vierjährig». Auch die Schwester soll ein Kleid bekommen, sagt Huda. Monika erklärt ihr genau, wie sie am Kind Mass nehmen soll, damit sie beim nächsten Mal die Grösse berechnen kann. Der Schneidetisch ist noch besetzt, Christine hilft Isma beim Zuschneiden. Sie zeigt ihr eben, wie die Schere gehalten und geführt wird.


«Schneiden braucht Mut – aber ohne Schneiden, kein Nähen», sagt die pensionierte Schneiderin und übergibt nun die Schere an Isma.


Gratulation! Die junge Mutter hat den ersten Schnitt ruhig und konzentriert ausgeführt.


Es ist 15.00 Uhr, im Nähatelier ist Ruhe eingekehrt. Alle wissen, was sie zu tun haben. Christine langweilt sich ein wenig. Nur wenn mindestens drei Fragen gleichzeitig an sie gerichtet werden, ist sie im Element. Bahar hat auch einen Moment Ruhe. Sie schaut den Frauen zu und ist in ihre eigenen Gedanken versunken. «Sie haben alle ums Überleben gekämpft, sie waren im Krieg, sie mussten sich und ihre Kinder verstecken.» Bahar weiss, wovon sie spricht. Als Alevitin hat auch sie eine Fluchtgeschichte.


«Unsere Besucherinnen haben verstanden, dass wir für sie da sind», fügt sie an, «wenn ihnen jemand sein Herz öffnet, geht auch ihr Herz auf.»

Pünktlich zur Pausenzeit führt Amira ihr neues Kleid vor. «Ein Uhr», sagt sie stolz und dreht sich einmal um sich selbst. Eine Stunde, meinst Du, nicht wahr? Amira ist so stolz, dass sie das Sprachdetail überhört und sich erst einmal von allen Seiten bewundern lässt. Am Küchentisch werden unterdessen Orangen geschält und Bananen in mundgerechte Stücke geschnitten. Zobeida ist heute zum ersten Mal im Atelier und hat Früchte mitgebracht:


«In unserem Land bringt man beim ersten Besuch Früchte mit».

Justine bedankt sich und stellt die Gaben auf den Tisch, damit sich alle bedienen können


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