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AutorenbildBarbara Imobersteg

Fatima hat einen gelben Vogel bekommen

Es ist ruhig im Social Fabric-Nähatelier. Die Nähmaschinen rattern leise, die Scheren durchtrennen gleichmässig Stoffbahnen und das Dampfbügeleisen schnauft sanft dazu.


Kouassi sitzt am Fenster und arbeitet. Eben noch war seine Stimmung betrübt und niemand konnte ihn aufheitern. Nun beginnt er leise zu singen und unter seinen geschickten Händen nimmt ein Necessaire Form an. Hanna sitzt neben ihm und näht Kissenbezüge. Die beiden wechseln ab und zu ein paar Worte auf Deutsch. Sie haben nicht dieselbe Muttersprache und im Atelier wird grundsätzlich deutsch gesprochen. Fatima legt eben die Schere weg und sieht sich ihre Stoffauswahl nochmals an. Sie produziert Servietten aus Stoffresten und stellt je sechs zu einem Set zusammen. Sie sieht sich die verschiedenen Designs an, prüft das Material und entscheidet sorgfältig. Ihre Familie ist schwer betroffen vom Erdbeben in der Türkei – umso mehr vertieft sie sich jetzt in die Arbeit. Ruth experimentiert mit einer dicken, steifen Plache. Sie war Bestandteil eines Standup-Paddels, das nun rezykliert werden soll. Die alte Leder-Nähmaschine könnte hilfreich sein.


«Kouassi, Du hast viel Erfahrung, was meinst Du dazu?»

Justine empfängt einen Mitarbeiter des Jugendrotkreuzes. Er wird mit Social Fabric wiederum einen Ferienkurs für junge Geflüchtete anbieten. Das Angebot stiess letztes Jahr auf grosses Interesse und die Teilnehmenden konnten im Anschluss das Nähatelier weiter nutzen.


«Die Pausen müssen wir gut gestalten», sagt Justine.

Nähen weckt den Ehrgeiz und verleitet dazu, die Arbeit nicht mehr wegzulegen.» Das Soziale soll keinesfalls zu kurz kommen. Der Anlass wird von freiwilligen Mitarbeiterinnen des Nähateliers angeleitet. Sie werden auch die Rotkreuzhelfer:innen einführen. Zur Auswahl stehen Haargummis aus Stoffresten, ein Gymbag und eine Trainerhose. Die Schnittmuster sind bereits da und haben sich bewährt. Das Stoff- und Materiallager ist dank der vielen Spenden voll. Alles wird verwertet. Die kleinen Reste dienen zuletzt als Füllmaterial für Yogakissen.


Beim gemeinsamen Mittagessen erzählt Kouassi von seinem Heimatland Togo. «In meiner Generation meinen die Leute noch immer, dass Togo zu Frankreich gehöre.» Er schüttelt den Kopf. Sein Interessensgebiet ist Geschichte und Politik. C’est ma passion – wie heisst das auf Deutsch? Leidenschaft, ja, es ist meine Leidenschaft. Das Team geht über zum so genannten Montagsgespräch und lässt die vergangene Woche Revue passieren. Hanna absolviert neu einen Rotkreuzkurs zur Begleitung von alten und demenzkranken Menschen. Justine hat sich mit möglichen Hilfsaktionen für die Menschen im Erdbebengebiet auseinandergesetzt. Fatima lächelt. Sie erzählt nicht vom Erdbeben, sondern dass sie einen gelben Vogel bekommen hat und auch einen Käfig dazu.


«Kanarienvogel» schreibt Ruth sogleich an den Flipchart. Jedes neue Wort wird festgehalten und geteilt.

Ruth arbeitet am Prototyp einer Tasche, die das Haus Konstruktiv für den Museumsshop bestellt hat. Kouassi hat zehn Näh-Privatstunden gegeben, die Kundin sei sehr zufrieden gewesen. Er gibt sich cool, aber seine Augen lächeln. Mari hat die neuen Produkte für die Website fotografiert. Sie kommt aus Estland und muss manchmal auch nach Wörtern suchen. Dass sich immer alle um Verständigung bemühen, ist hier im Nähatelier eine grosse Selbstverständlichkeit. Hanna möchte gern noch etwas über die Wochenendaktivitäten erfahren, das würde sie interessieren. Mit ihrer Offenheit und ihrem Lachen steckt sie alle an. Leider ist der Austausch aber vorbei für heute.


Elisabeth tritt ein und begrüsst die Runde.


Die ehemalige Weissnäherin arbeitet schon seit sechs Jahren als Freiwillige im Nähatelierund kommt wöchentlich.

Heute hat sie einen ausserordentlichen Termin mit einer ehemaligen Besucherin, die Unterstützung braucht beim Vorhangnähen. Alle freuen sich, die Eritreerin wieder einmal zu sehen. Sie bringt Früchte mit fürs Team und erzählt noch schnell von ihrem Deutschkurs, bevor sie sich an die Maschine setzt. «Elisabeth, konntest du dich sogleich an Salma erinnern», fragt Justine. «Aber sicher.» Elisabeth nimmt den Stoff fachgerecht in die Hand und zeigt Salma, wo der Saum aufgetrennt werden soll. Bald ist es wieder ruhig im Nähatelier. Die Maschinen rattern leise und das Bügeleisen schnauft dazu.




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